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Ein bisschen Zeit für mich

Story 6

von Christina Rolofs

Sag es ruhig. - Sag ruhig joggen ist langweilig. Ich höre das so oft. In meiner Familie sind, bis auf meine Tochter, die aber mittlerweile weit weg wohnt, alle Jogging-Hasser. Aber da muss man Rückgrat zeigen. Und vor allem: Jogging ist meine spezielle me-Zeit.

Sehen wir mal die positiven Seiten. Also z.B. zu Sankt Nikolaus am 6. Dezember stellt man in Deutschland ein paar Schuhe raus. Und über Nacht füllen die sich dann wundersamerweise mit allerhand Süßigkeiten und kleinen Geschenken. Wohl dem, der neben Stilettos und Sandalen dann noch ein Paar raumbietende Joggingschuhe hat.

Und was habe ich über die Jahre nicht alles geschenkt bekommen. Einen Walkman, den man sich an den Hosenbund klippen musste, mit langen, dünnen Kabeln zu Kopfhörern, die man damals noch on-ear trug. Modisch ein Supergau und bewegungstechnisch ein permanentes Ärgernis, weil man gefühlt alle 100m die Hose wieder ein bischen hochziehen musste. Danach mp3-Player, die man sich an den Oberarm binden konnte. Die Kabel wurden kürzer und in-ear, und die Hose hielt von da ab.

Dann iPhone & Co. und Bluetooth Kopfhörer. Mittlerweile kann ich mich nicht mehr verlaufen, dank dem online Navigator, und ich kann sogar gegen Menschen irgendwo in der Welt laufen. Meine Familie sollte wirklich nicht so negativ darüber reden, schließlich bietet ihnen mein Joggen über viele Jahre hinweg super Möglichkeiten für Weinachts- und Geburtstagsgeschenke.

Aber natürlich zählt das alles nicht wirklich, wäre da nicht die wirkliche und wahrhaftige Freude, die ich beim Laufen erfahre. Es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann war Laufen nicht mehr Laufen, sondern mein Zen-Moment. Er bringt mich auf andere Gedanken. Ich kann meinem Kopf freien Lauf lassen während ich jogge. Etwas, was ich vielleicht nur noch im Urlaub am Strand machen kann. Er trägt mich wie in einem Review durch meinen Alltag, aber auch hin zu total phantasievollen Gedanken. Ich gleite durch Raum und Zeit während ich jogge. Manchmal realisiere ich gar nicht mehr, wolang ich gelaufen bin, aber ich bin durch ein Meer von Gefühlen und Gedanken gerannt.

Bald, im Mai, wird es für wenige Wochen wieder nach Waldmeister riechen, was mich an Maibowle und Frühlingsfeste erinnert. Alles ist bunt und sprießt. Wenn ich nicht gerade über etwas nachdenke, dann nimmt mich die Umgebung gefangen. Jetzt sind es die Lämmer und Zicklein, manchmal aber auch die Rehkitze uns selbst kleine Füchse habe ich schon gesehen. Irgendwann sind es dann wieder die gelben Rapsfelder und danach die bunt gefärbten Bäume und das Rascheln unter den Füßen.

Diese Welt, gleich ob es nieselt oder die Sonne scheint, diese Welt gehört mir ganz allein. Für ungefähr eine Stunde gibt es nur das, was ich mir vorstelle und das, was ich sehe, rieche oder höre. Meine me-time. Und wenn ich jemals jemanden bekehren wollte eine andere Haltung zu Joggern zu haben, dann wäre nicht meine Familie und auch nicht Sie der geneigte Leser. Dann wären es Bremsen und Mücken. Die einzigen wirklichen Feinde der Jogger.

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